Food and Revolution

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Ernährungswissenschaftler/innen, Politiker/innen und internationale Expert/innen stritten darüber, wie die Ernährungslage einzuschätzen sei, wie die Unterernährung von Kindern bekämpft werden könne und was eine „gute“ Ernährung auszeichne. Dabei orientierten sie sich immer wieder an internationalen Standards und unterschiedlichen Konsumidealen.
Im Vortrag "Food and Revolution. Fighting Hunger in Nicaragua, 1960-1993" von Prof. Berth wird exemplarisch anhand von Nicaragua gezeigt, wie Ernährung seit den 1950er Jahren zu einem wichtigen Feld politischer, wissenschaftlicher und intellektueller Auseinandersetzungen wurde.
Während den Eliten der Somoza-Diktatur die USA als Vorbild galt, strebten die sandinistischen Revolutionäre nach 1979 eine Ernährung auf der Basis lokaler Ressourcen an, um teure Importe zu vermeiden. Dazu führten sie breit angelegte politische Kampagnen durch, um den Mais- und Gemüsekonsum zu fördern. Insgesamt setzten die Revolutionäre in ihrer Politik auf eine Stärkung der Produktion von Grundnahrungsmitteln, Preissubventionen, staatliche Verteilungsmechanismen sowie Aufklärungskampagnen durch Plakate, Comics oder Kochworkshops. Deshalb galt die frühe revolutionäre Ernährungspolitik internationalen Expert/innen als Vorbild für andere Länder des globalen Südens. Doch in den folgenden Jahren setzte eine Desillusionierung ein: einerseits erschwerten die fortwährende Exportabhängigkeit aber auch US-amerikanische Interventionen die Umsetzung der neuen Ernährungspolitik. Andererseits beeinträchtigten innere Widersprüche und politische Fehlentscheidungen ihre Umsetzung, besonders in ländlichen Regionen und an der Karibikküste.
Sanktionen, Krieg und Wirtschaftskrise verschlechterten die Ernährungslage seit 1984 dramatisch. Die führte bei vielen Menschen zu Unmut; sie mussten immer mehr Zeit aufwenden, um in Geschäften Schlange zu stehen oder über persönliche Kontakte Lebensmittel zu beschaffen. Eine Hyperinflation und die Folgen des Hurricanes Joan verschärften die Situation seit 1988 erneut: der Hunger war zurück in Nicaragua. Dies trug mit zur Wahlniederlage der Sandinisten im Februar 1990 bei. Bis Mitte der 1990er Jahre blieb die Ernährungslage angespannt; die neue Regierung setzte auf eine neoliberale Wirtschaftspolitik und eine Kooperation mit internationalen Finanzinstitutionen. Die erneute Orientierung an US-amerikanischen Vorbildern entfachte eine kontroverse Diskussion über Ernährung und Konsum. Der Streifzug durch die Geschichte der Ernährung in Nicaragua beinhaltet den Einblick in historische Quellen, wie etwa Kochbücher, Fotos, Comics, Ernährungsratgeber, Statistiken und Umfragen.
Der Vortrag endet mit einem Ausblick auf die Situation im frühen 21. Jahrhundert: Als wichtiges Erbe der sandinistischen Revolution blieben starke Kleinbauernorganisationen erhalten, die sich in den folgenden Jahren an der Gründung der Organisation La Vía Campesina beteiligten. Diese Organisation mobilisiert seit 1996 für Ernährungssouveränität und die Rechte von Kleinbauern. 27 Jahre nach der Revolution gewann die FSLN 2006 erneut die Wahlen; die neue Regierung unter Daniel Ortega erließ 2009 ein Gesetz für Ernährungssicherheit und Ernährungssouveränität. Allerdings hatten sich die politischen Ideale der Partei inzwischen stark gewandelt, so dass das Gesetz eine starke Rolle des Staates festschrieb und auf die Interessen der Unternehmerschaft Rücksicht nahm. In den letzten Jahren hat Ortega eine autoritäre Herrschaft in Nicaragua etabliert; soziale Bewegungen setzen ihn inzwischen mit dem Diktator Somoza gleich. Obwohl es an offiziellen Daten mangelt, gibt es viele Hinweise dafür, dass sich die Ernährungslage seit 2016 deutlich verschlechtert hat.
Jenseits der historischen Entwicklung von Ernährung und Konsum in Nicaragua bietet die Veranstaltung Gelegenheit über folgende Themen zu diskutieren:
- Die Schwierigkeiten von kleinen Ländern des globalen Südens, Hunger zu bekämpfen und eine dauerhafte Verbesserung ihrer Ernährungslage zu erreichen.
- Die Rolle von Entwicklungsexpert/innen, internationalen Organisationen, NGOs, Kleinbauern und Konsument/innen im Feld der Ernährungspolitik
- Die Entstehung und Entwicklung von Kriterien für eine „gute“ Ernährung
- Die Entwicklung von Ernährungspolitik in unterschiedlichen Kontexten: Diktatur und Revolution in der Zeit des Kalten Krieges, Wirtschaftskrisen und strukturelle Anpassungsprogramme, Naturkatastrophen und Klimawandel, internationale Entwicklungsziele
- Ernährungssicherheit und Ernährungssouveränität